The Bowery in two inadequate descriptive systems
Martha Rosler
The Bowery in two inadequate descriptive systems, 1974/75
Fotoinstallation 45 Schwarz-weiß-Fotografien, Barytpapier (Abzüge 1999), 21 Abbildungen und 24 fotografierte Schreibmaschinentexte, großteils paarweise kaschiert auf 24 schwarze Kartons, à 20,2 x 25,3 cm, gerahmt in 24 Rahmen à 26,8 x 57,3 cm Auflage 4/5 + A. P.
GF0002055.00.0-1999
Werktext
Drinnen, Drumherum und nachträgliche Gedanken (zur Dokumentarfotografie) 1. Die Bowery in New York ist der Archetypus einer Pennergegend und deshalb schon immer für Fotografen interessant gewesen. Das Spektrum der Ansichten reicht von Bildern, die wie ein Aufschrei moralischer Entrüstung wirken, bis hin zu solchen, die sich am Schauspiel der elenden Verhältnisse weiden. Warum übt die Bowery auf DokumentarfotografInnen eine derartige Anziehung aus? Der Impuls, den Säufern und kaputten Existenzen zu “helfen” oder auf ihr gefahrvolles Leben “aufmerksam zu machen”, klingt bestenfalls nach Verschleierung und taugt deshalb nicht mehr als Erklärung. Wie haben wir mit der Dokumentarfotografie als fotografischer Praxis umzugehen? Was ist an ihr relevant? Zunächst sollten wir sie als ein historisches Phänomen, als Praxis mit einer Geschichte, begreifen. Im liberalen Empfinden ist der Dokumentarfotografie die Rolle des in Bilder übersetzten sozialen Gewissens zugefallen. (Ihre Wurzeln sind allerdings verzweigter; sie schließen die “kunstlosen” Kontrolltechniken, polizeiliche Aufzeichnung und Überwachung, ein.) Ihren großen Moment hatte die Fotodokumentation im ideologischen Klima der Reformbewegungen und der im Entstehen begriffenen wohlfahrtsstaatlichen Institutionen, die im Amerika des frühen 20. Jahrhunderts die progressive Ära einläuteten. Dieser Moment erstreckte sich auch noch auf die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, eine Epoche des politischen Konsenses, die geprägt war durch den “New Deal”. Weil die Dokumentation ihren Ursprüngen nach mit der Aufdeckung von Skandalen zusammenhängt, trug sie zum Mythos journalistischer Objektivität bei, dem sie allerdings in Teilen später selbst zum Opfer fallen sollte. Wir können eine Geschichte der Dokumentationsfotografie rekonstruieren, in der auch den Ansichten der Bowery eine Rolle zufallen dürfte. Schließlich verrät sich auch auf diesen Bildern der aggressive Anspruch, die Realität von Armut und allgemeiner Hoffnungslosigkeit, von auferlegter Marginalität und unkaschierter gesellschaftlicher Nutzlosigkeit mit der Kamera erfassen zu können. Darüber hinaus versuchten diese Aufnahmen, die geordnete Alltagswelt dazu zu nötigen, von der neu gesehenen Realität hinter diesen Bildern Notiz zu nehmen. Konkret wurde diese Realität durch die schlichte Tatsache, fotografiert worden zu sein. Das brachte sie ins Bewusstsein und gab ihr Beispielcharakter. [...] 2. [...] Die Opfer hier, insofern sie keine Opfer der Kamera – des Fotografen – sind, erweisen sich in der Regel als sehr gefügig. Das mag an ihrer geistigen Verwirrung liegen oder daran, dass sie einfach bewusstlos herumliegen. (Taucht man allerdings auf, bevor der Suff sie umnebelt hat, dann ist die Gefahr groß, auf Feindseligkeit zu stoßen. Die Menschen der Bowery interessieren sich nämlich nicht sonderlich für Unsterblichkeit und Starruhm, und sie hatten schon häufig Gelegenheit, mit der Nikonausrüstung ihre Erfahrungen zu machen). [...] 5. The Bowery in two inadequate descriptive systems ist ein Werk der Verweigerung, die aber nichts mit trotzigem Antihumanismus zu tun hat. Das Werk ist intendiert als Akt der Kritik; der Text, den Sie gerade lesen, läuft parallel zu einem anderen Beschreibungssystem. In diesem Buch finden sich keine gestohlenen Bilder; was sollte man von ihnen auch lernen können, das man nicht ohnehin weiß? Wenn es hier um Verarmung geht, dann ist das nicht auf die existentielle Dimension zu beziehen, sondern meint die Verarmung der allein umhergeisternden Repräsentationsstrategien. Die Fotos sind zu machtlos, um mit der Realität, deren ideologischer Status von vornherein feststeht, umzugehen. Zugleich lenken sie aber ab, nicht anders als die Wortbildungen – die sich, leichter als die Bilder, innerhalb der Kultur der Betrunkenen verorten lassen, weil man bei ihnen nicht automatisch den Rahmen, der dieser Kultur übergestülpt wird, assoziiert. Man stößt hier auf eine Poesie der Betrunkenheit, eine Gefängnispoesie. Adjektive und Substantive verdichten sich zu metaphorischen Systemen – Bilder vom Essen, von der Seefahrt, von maschineller Fertigung, vom Militär, spöttische Vergleiche mit der Tierwelt, Ausländisches, Archaisches und Anspielungen auf noch andere Diskursuniversen –, die einer bestimmten Existenzweise, einer Art Subkultur einschließlich der Leute, die in dieser Weise leben, zugeschrieben werden. Die Worte nehmen ihren Ausgang außerhalb der Pennerwelt, schlittern aber langsam hinein, ganz so wie man sich das Abgleiten in den Suff oder auf die unterste Stufe der Existenz vorstellt. Der Text endet zweimal; er umfasst zwei Serien. Da sind zum einen die Adjektive. Sie beginnen mit einer spielerischen Metapher, welche die frühen, noch allgemein akzeptierten Rauschzustände umfasst, um dann immer weiter fortzuschreiten zur Dürftigkeit des Stumpfsinns und schließlich zum Tod. Eine zweite Serie beginnt mit Substantiven, die eng mit der Bowery verknüpft sind und mit der Außenwelt nichts gemein haben. Es kommt vor, dass sich die Texte direkt auf die Fotos beziehen. Doch meist, wenn zwischen Bild und Text eine Verbindung besteht, verdüstert sich die Stimmungslage der beiden Systeme gleichzeitig. Die Fotos repräsentieren einen Spaziergang durch die Bowery, die als Schauplatz und als Lebensraum geschildert wird: als Geschäftsviertel, dessen heruntergekommene Anwohner nach Ladenschluss in den schmalen Haus- oder Geschäftseingängen ihr Quartier nehmen. Die Geschäftslokale selbst sind zum Teil baufällig, zum Teil aber auch prachtvoll. Das Spektrum reicht von alteingesessenen, aber völlig heruntergekommenen Läden für Restaurantbedarf über reine Lagerräume bis hin zu erstaunlichen Kristallgrotten, aus denen Lampen in Gestalt verzückter Cherubim oder lichtdurchlässiger Schwäne in Fontänen aus Glasfasern, an denen Öltropfen abperlen, ihre Lichtstrahlen bis auf die Straße senden. Die über der Straße liegenden Räumlichkeiten wechseln zwischen billigen Absteigen, die inzwischen aber eher spärlich geworden sind, und ihrem Nachfolgemodell, den unsichtbaren Wohnlofts. Die Ausstattung der Räume reicht von schäbig und kahl bis zu selbst errichteten tropischen Paradiesen, deren BewohnerInnen allerdings immer über die schlafenden Penner in den Hauseingängen klettern müssen. Hier wohnt also nicht unbedingt die Art von Leuten, die Kinder haben. Für das Leben auf der Straße ist das alles jedoch unerheblich; die Qualität des Pflasters wird dadurch nicht tangiert. Unberührt von all dem, was sich in den Häusern abspielt, bleibt auch die Schutzfunktion (oder der Mangel an Schutz), welche die Hauseingänge erfüllen. Einige von ihnen weisen zwar optisch unauffällige, aber desto ungemütlichere Reihen von im Boden eingelassenen Eisenzähnen auf. Diese sollen den Pennern ihren Schlafplatz vermiesen, werden allgemein aber nur als Erbse unter der Matratze einer ausgerollten Jacke verspürt. Während die neue urbane Oberschicht, die sich vor allem aus Dienstleistungsberufen rekrutiert, nach leer stehenden Fabriksetagen giert, um dort ihren Spießeridyllen zu frönen, hat die Bowery ihren seit mehr als hundert Jahren unveränderten Charakter (bislang) bewahrt. Trotz ihres Namens, der auf die ländliche Vergangenheit anspielt, findet man auf der Bowery keine Blumen verstreut, sondern Flaschen, und manchmal auch Schuhe. Die gezeigten Fotos sind radikale Metonymien, deren szenischer Hintergrund nichts anderes impliziert als die Verhältnisse, die hier herrschen. Das eigentliche materielle Setting werde ich nicht angeben, allerdings sagt es auch nichts aus. Die Fotos zeigen ganz einfach die Geschäfte; sie übermitteln vertraute städtische Wahrnehmungen. Es geht bei ihnen nicht darum, die Realität neu zu sehen. Es sind keine Front- oder Reisereportagen, keine Berichte über Entdeckungen oder Selbsterfahrungen. Auch der Stil, in dem fotografiert wurde, dient keiner anderen Sichtweise. Er entstand in den dreißiger Jahren, einer Zeit, als die Botschaft selbst neu begriffen oder in einem neuen Zusammenhang sichtbar wurde. Ich zitiere sowohl die Worte als auch die Bilder. (Martha Rosler)