UN COUP DE DÉS
Bild gewordene Schrift. Ein ABC der nachdenklichen Sprache
Kuratorin: Sabine Folie
Kuratorische Assistenz, Ausstellungsproduktion: Georgia Holz
Werke von: Robert Barry, Lothar Baumgarten, Marcel Broodthaers, Theresa Hak Kyung Cha, Rodney Graham, Ulrike Grossarth, Jaroslaw Kozlowski, David Lamelas, Ewa Partum, Gerhard Rühm, Klaus Scherübel, Dominik Steiger, Ana Torfs, Peter Tscherkassky, Joëlle Tuerlinckx, Ian Wallace.
Die erste Ausstellung der Generali Foundation unter Leitung von Sabine Folie hatte den Anspruch, programmatisch zu sein und in diesem Sinne Desiderata im Hinblick auf die Zukunft der Sammlung zu formulieren, und sie erwies gleichzeitig der bestehenden Sammlung Reverenz. Eine Sammlung, die sich durch den Fokus auf Konzeptkunst, institutionskritischer Kunst und der Kunst der Postavantgarde auszeichnet, richtet ihr Interesse naturgemäß auf das subversive Potential von Sprache – in ihrer ideologiekritischen Dimension ebenso wie in ihrer poetischen Sprengkraft. Und hier trifft man auf Marcel Broodthaers. Um Broodthaers und Stéphane Mallarmé, den Ahnen der avantgardistischen Poesie, herum und in unterschiedlichem Bezug zu ihnen gab es ein reiches direktes oder indirektes Verweissystem zu den in der Ausstellung gezeigten Werken.
"Darin liegt die Macht des Alphabets: im Wiederfinden einer Art Naturzustand des Buchstabens. Denn der allein stehende Buchstabe ist unschuldig: Die Schuld, die Vergehen beginnen, sobald man Buchstaben aneinanderreiht, um Wörter aus ihnen zu machen."
Roland Barthes, "Der stumpfe Sinn und der entgegenkommende Sinn", 1970
Die Bewegung der Buchstaben, die Steigerung der allusiven und dekonstruierenden Eigenschaften der Sprache, standen im Mittelpunkt der Ausstellung. Was Stéphane Mallarmé (1842-1898) in "Un Coup de dés" (Ein Würfelwurf) 1897 vorgedacht hat, ist im 20. Jahrhundert zu einem integralen Bestandteil des poetologischen Vokabulars geworden: Sprache als Konvention zu entlarven, die dazu da ist, Individuen zu disziplinieren und sie einem geregelten System der kapitalistischen Verwertbarkeit zu unterwerfen, oder – ins Positive gewendet – nützliche Überschaubarkeit der Welt zu garantieren. Sprache sollte einer Revision unterzogen werden und ihren imaginativen Freiraum zurückerobern, indem sie ihrer zweckgerichteten Bestimmung, etwas Eindeutiges bedeuten zu müssen, entrissen wird. Diesem Bedürfnis der leichten Konsumierbarkeit wollte nicht nur Mallarmé mit der Suggestivkraft des Buchstabens, der Art der typographischen Setzung der Wörter auf das weiße Blatt Papier entgegensteuern. Marcel Broodthaers (1924-1976), eine Schlüsselfigur der Postavantgarde, ging einen noch radikaleren Weg als Mallarmé und wandte sich – nicht unähnlich anderen Dichtern in der Ausstellung – zunächst in einem performativen Akt von der "brotlosen" Poesie ab und der "zugkräftigeren" Kunst zu. Er goss 50 Exemplare seiner schlecht verkauften Gedichtsammlung "Pense-Bête" in Gips und stellte sie als Skulptur dem Kunstmarkt zur Verfügung. Danach strich er in einer nahezu exakten Kopie der Erstausgabe von Mallarmés "Un coup de dés jamais n’abolira le hasard" (1914) dessen Gedicht mit schwarzen Balken durch.
Um Stéphane Mallarmé und Lewis Carrolls "verkehrte Welt" als Beispiele für Vorläufer einer antirepräsentativen Kunst, um Marcel Broodthaers (1924-1976), der Mallarmés Strategien der Sprachanalyse auf die Spitze trieb, und um diesen Figuren im Denken verwandte Künstler:innen kreiste die Ausstellung "UN COUP DE DÉS. Bild gewordene Schrift. Ein ABC der nachdenklichen Sprac he". Ihre Untersuchung der Sprache erstreckte sich auf ein Bezugsfeld des Intermedialen: Sprache kam in Buch, Film, Video, Projektion, Objekten, Texten und Performances zu Wort. In der Ausstellung lösten sich die Buchstaben aus dem Buch und der instrumentellen Destination als reinem Informationsmedium; sie schleusten sich als eine Art Störfaktor des Geläufigen in den Fluss des Medialen ein und besetzten den Raum in enigmatischer und gleichermaßen sprachkritischer Form neu. Das Überdenken und Aushebeln eingeschliffener Rhetoriken erfolgte durch Techniken der Wiederholung, der syntaktischen Verrückung, der Reduktion bis zur Absenz, der Montage oder der alogischen Konfrontation mit der Dingwelt.
Die Künstler:innen untersuchten Sprache und die Möglichkeiten ihrer zweckfreien, jedenfalls nicht entfremdenden Äußerungsform. Ihr Umgang mit Sprache legte das Funktionieren der Institutionen offen und beleuchtete damit das kollektive Gedächtnis der eingeschriebenen Schrift der sozialen Ordnung – mit dem Ziel, Sprache von ihrer rein rationalen Verwertbarkeit zu emanzipieren und allenthalben Nonsens als befreiendes Gegenmodell anzubieten. Da, wo Realität als letztlich uneinnehmbar und undurchdringlich begriffen wird, kam die poetische Sprache, ihre Suche nach der unveräußerlichen Bedeutung der Dinge, zum Zug.
"UN COUP DE DÈS" war ein Parcours durch die Welt des Alphabets, des unschuldigen Buchstabens und dessen figürliche Entsprechungen in vorsprachlichen Formen der Welterklärung, wie sie in illustrierten Kinderbüchern des 19. Jahrhunderts beispielsweise vorkommen: Rodney Graham oder Broodthaers führen uns verkehrte Welten vor, wie auch Lewis Carroll. In den meisten der Arbeiten spielt die Setzung der Wörter, Design und Typographie, kurz die Gestaltung des Buches eine große Rolle – ein Medium der Konzentration, Entrückung und Ausschweifung sowie Synonym für die Vertiefung des Künstlers in das Denken und Formulieren – nachvollziehbar in den Arbeiten von Ian Wallace oder Klaus Scherübel. Dichtung wird nicht nur bei Mallarmé bildhaft, sondern auch in den Akrosticha von Dominik Steiger, den „konkreten“ Poesien von Jaroslaw Kozlowski, Gerhard Rühm, Ewa Partum oder Robert Barry. Konvulsivisch und absurd wird sie bei David Lamelas und sprachanalytisch zerlegt in den Videoreflexionen von Theresa Hak Kyung Cha: Wenn Sprachen im Exil neu erlernt werden müssen, wird die polysemische Bedeutung von Wörtern erst eigentlich ins Bewusstsein gerückt. Bei Joëlle Tuerlinckx, Marcel Broodthaers, Lothar Baumgarten und Ulrike Grossarth dienen Sprache oder deren figurative Pendants dazu, Dinge, institutionelle Zusammenhänge sowie soziale und politische Verflechtungen von Wörtern und ordnenden sprachlichen Klassifizierungssystemen zu befragen. Um über Sprache zu reflektieren, benutzen die Künstler:innen die unterschiedlichsten Medien, und dadurch wird die Infiltrierung des Alltags mittels Sprache in die Schichten des Bewusstseins deutlich: Die verschiedenen Ebenen der sprachlichen Äußerungen – Bild, Schrift, Stimme, Insert, Negativfilm kommen im filmischen Medium u.a. bei Peter Tscherkassky oder der sequenziellen Diainstallation von Ana Torfs besonders deutlich zum Vorschein.
Die Ausstellung "UN COUP DE DÉS. Bild gewordene Schrift. Ein ABC der nachdenklichen Sprache" war also mehrfach lesbar, als ein Bezugssystem avantgardistischer Techniken und Analysen rund um Referenzfiguren der Moderne, aber auch als eines der Freundschaften und Resonanzen zwischen den Künstler:innen, die in einem Zeitraum vom 19. Jahrhundert über die Konzeptkunst der 1960er und 1970er Jahre bis zur Gegenwart tätig waren und sind.
Das Thema der Ausstellung könnte auch Lewis Carrolls "The Hunting of the Snark" (1876) entnommen sein: Matrosen sehen sich einer leeren Seekarte gegenüber, die nur an den Rändern bezeichnet ist – "A perfect and absolute blank", die der freien Interpretation preisgegeben ist, da „Zeichen ohnehin nur Konvention“ sind. Eine abenteuerliche Reise in den Raum der Poesie mit den Mitteln der Subversion: dem Zufall, der Leere, dem Spiel, der Travestie, der Suggestion – und der Parrhesia.