Marisa Merz
Marisa Merz wurde 1926 in Turin, Italien geboren. Als bildende Künstlerin war sie Autodidaktin. 1960 heiratete sie Mario Merz (1925-2003), der als einer der Hauptvertreter der Arte povera durch den Bau von Iglus aus verschiedensten Materialien und seine Verwendung der Fibonacci-Folge bekannt wurde. 1975 erhielt Marisa Merz ihre erste Einzelausstellung in der Galleria L’Attico in Rom, Italien. Ihr künstlerischer Durchbruch gelang ihr in den 1990er-Jahren mit Ausstellungen unter anderem 1994 im Musée National d’Art Moderne, (Centre Pompidou), Paris, Frankreich und im Kunstmuseum Winterthur, Winterthur, Schweiz. 2018 übernahm das Museum der Moderne Salzburg, die in den Vereinigten Staaten vom Hammer Museum, Los Angeles, und The Metropolitan Museum of Art, New York organisierte, vielbeachtete Retrospektive „Il Cielo È Grande Spazio / Der Himmel ist ein weiter Raum“, die in Europa in Kooperation mit der Fundação de Serralves – Museu de Arte Contemporânea in Porto, Portugal zustande kam und zu der ein ausführlicher Katalog erschien. Merz nahm an zahlreichen Gruppenausstellungen teil, darunter 1982 die documenta 7 und 1992 die documenta IX ,sowie die 43. und die 49. Biennale di Venezia (1988 und 2001). Anlässlich der 55. Biennale di Venezia (2013) wurde ihr der Goldene Löwe für ihr Lebenswerk verliehen. Marisa Merz verstarb im Jahr 2019 in Turin.
Das künstlerische Schaffen von Marisa Merz entwickelte sich kontinuierlich und fand zunächst im privaten Bereich – parallel zu der von männlichen Kollegen dominierten Kunstströmung der Arte povera – statt. Mit zeitlicher Verzögerung gelang es ihr, aus dem Schatten ihres bekannten Mannes herauszutreten und als Künstlerin Beachtung zu finden.
Der Begriff Arte povera wurde 1967 von dem Kunsthistoriker, Kritiker und international renommierten Kurator Germano Celant (1940–2020) geprägt. Mit diesem Terminus charakterisierte er eine sich in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre in Norditalien konstituierende Kunstbewegung und grenzte diese als ebenbürtiges und eigenständiges europäisches Phänomen vom amerikanischen Minimalismus ab. Auffällig an der „armen Kunst“ ist die Verwendung alltäglicher, banaler, sozusagen „armer“ Materialien, die bis dahin als kunstfremd galten: Erde, Holz, Pflanzen, Steine, Glas etc. Marisa Merz und die in Hamburg geborene Eva Hesse (1936–1970), die 1939 aufgrund ihrer jüdischen Abstammung mit ihrer Familie nach New York flüchten musste, sind die beiden einzigen weiblichen Vertreterinnen der Arte povera. Eva Hesse stellte mit ihrer revolutionären räumlich-plastischen Verwendung von alltäglichen, vorzugsweise weichen Materialien, wie Stoff, Schnüren, Filz, Harz, Latex, Gummi, Polyester und Glasfaser, eine Art Bindeglied zwischen der europäischen Arte povera und dem amerikanischen Minimalismus dar und kann beiden Kunstströmungen zugerechnet werden. Im Vordergrund stand die Überwindung des herkömmlichen Materialverständnisses und die imaginäre Kraft einfachster Materialien, die als Werkstoffe eine überraschend intensive Poesie entwickelten. In Europa waren das vorzugsweise natürliche, organische und vegetabile Materialien, die ein reiches Potenzial für Metaphern besaßen und von großer assoziativer Kraft waren. In den USA hingegen kamen industrielle Fertigprodukte, wie Metall- und Steinfliesen, Stahl etc., zum Einsatz, die analytisch auf ihre geometrischen Grundstrukturen, Formen und monochromen Flächen reduziert wurden. Die vermeintlich einfachen Gegenstände der Arte povera zeigten sich als reich an Inhalten und wiesen über sich selbst hinaus. Als Vertreter der Minimal Art propagierte Frank Stella hingegen deutlich pragmatischer: “What you see is what you see.” Minimalistische Künstler_innen lehnten die Narration ab, die Werke sollten den objektiven Charakter von Industrieprodukten haben und nichts Anderes vorstellen, als sie waren. Sowohl durch die Arte povera als auch durch den Minimalismus wurden bis dahin geltende Wertvorstellungen von Kunst nachhaltig erodiert und revolutioniert.
Marisa Merz arbeitete hauptsächlich als Bildhauerin und Installationskünstlerin und thematisierte das Fragmentarische. Unter Verwendung von Materialien wie Wachs, Ton, Holz, Hanf, Leinwand, Papier, Aluminium und – ganz zentral – Kupferdraht, den sie in typisch weiblicher Fertigkeit auch verstrickte, fand sie ihre eigene Formensprache. Als eines ihrer ersten Werke entstand Mitte der 1960er-Jahre die Living Sculpture, eine große plastische Formation aus flexiblen Aluminiumröhren, die von der Küchendecke ihrer Wohnung in Turin hing. Das in sich bewegliche, schlenkernde Metallgebilde, ein seltsam organisch-technoides Hybrid, gelangte aufgrund der flexiblen Röhren, die sich fächerartig auseinander- oder zusammenschieben ließen, im Laufe der Jahre an verschiedenen Orten zu variablen Ausformungen. In den 1970er-Jahren setzte die Künstlerin zunehmend einzelne Arbeiten zu mehrteiligen und raumgreifenden Installationen zusammen. In den 1980er- und 1990er-Jahren entstand unter anderem eine Serie von expressiven Plastiken, die Testi (Köpfe). Dabei handelt es sich um kleine, mehrdeutige, letztlich unergründlich bleibende amorphe Gebilde aus ungebranntem Ton, Paraffin, Blei und Pigment. Als bewusste künstlerische Strategie unterließ Marisa Merz oft das Datieren ihrer Werke. Indem sie die Zeit der Fertigstellung verschleierte, betonte sie die Offenheit des Werkcharakters.
In der Sammlung Generali Foundation befindet sich ein Ensemble von drei repräsentativen Werken: eine atmosphärische Zeichnung aus Grafit und Metallfarbe, eine typische Kopfplastik und ein Paravent, der aus zwei paarigen, überall aufstellbaren Holzrahmen besteht, die horizontal dicht mit Kupferdraht verspannt sind. Der Paravent entstand anlässlich der Einzelausstellung, die das Musée National d’Art Moderne in Paris 1994 der Künstlerin widmete. In diesem Werk referenziert Merz auf ihre erste Einzelausstellung im Jahr 1975, in der sie die Wände in horizontalen Bahnen nach ihren Körpermaßen mit Kupferdraht verspannte und sich damit einem konkreten Raum physisch einschrieb. Wurde 1975 das Private öffentlich gemacht, dreht der Paravent das Prinzip um und bietet dem Privaten Schutz vor der Öffentlichkeit. Zudem schwingen das Symbol der Abschirmung und die energetische Leitfähigkeit von Kupfer, die als soziale Metapher gelesen werden kann, mit. (Doris Leutgeb)