Kara Walker
Kara Walker wurde 1969 in Stockton, Kalifornien, USA geboren. Als sie dreizehn Jahre alt war, zog ihre Familie nach Atlanta, Georgia. Dort absolvierte sie ein Studium der Kunst am Atlanta College of Art (Bachelor of Fine Arts 1991) und anschließend an der renommierten Rhode Island School of Design (Master of Fine Arts 1994). Im Jahr 2002 übernahm sie eine Professur an der Columbia University, New York. Die Künstlerin lebt und arbeitet in New York.
Walker wurde bis dato mehrfach ausgezeichnet. Im Jahr 1997 erhielt sie ein Stipendium der John D. and Catherine T. MacArthur Foundation. 2007 erfolgte ihre Wahl in die National Academy of Design, ein Jahr später errang sie das Eileen Harris Norton Fellowship. Im Jahr 2012 wurde sie in die American Academy of Arts and Sciences aufgenommen und Mitglied der American Academy of Arts and Letters. Im Jahr 2018 wurde sie in die American Philosophical Society gewählt. Die Royal Academy of Arts, London, ernannte sie 2019 zum Honorary Royal Academician. Ihre Werke haben weltweit in renommierte Museen und öffentlichen Sammlungen Eingang gefunden, unter anderem in das Solomon R. Guggenheim Museum, New York, das Museum of Modern Art, New York, das Metropolitan Museum of Art, New York, die Tate Gallery, London, das Museo Nazionale delle Arti del XXI secolo (MAXXI), Rom, in die Sammlung der Deutschen Bank, Frankfurt a. M., das Kupferstichkabinett des Kunstmuseums Basel und die Sammlung Generali Foundation – Dauerleihgabe am Museum der Moderne Salzburg. Für die Wiener Staatsoper gestaltete die Künstlerin den Eisernern Vorhang für die Saison 1998/1999 im Rahmen einer vom museum in progress initiierten Ausstellungsreihe.
Seit den 1990er Jahren sorgt Kara Walker mit ihren großformatigen, wand- und raumfüllenden, mittels Scherenschnitten und verschiedenfarbigen Lichtquellen erzeugten Projektionen für Aufsehen. Parallel dazu entsteht eine Fülle von virtuosen Zeichnungen in schwarzen und farbigen Kreiden, teils mit Weißhöhungen und Notationen versehen. Sie arbeitet mit Film, Video, Folien und Overhead-Projektoren. Der erste Eindruck ästhetisch ansprechender szenischer Darstellungen, die an liebliche Illustrationen von Märchen und Kindergeschichten erinnern, trügt. Walker stellt subversive Blickfallen, die zum typischen Merkmal ihrer Kunst geworden sind. In unbarmherziger Direktheit konfrontiert die Künstlerin mit den Schattenseiten der amerikanischen Geschichte, der Sklaverei samt den kollektiven und persönlichen Traumata der schwarzen Bevölkerung, die als Opfer kolonialer Ausbeutung in der amerikanischen Diaspora ihrer Menschenwürde beraubt wurden und jeder Art von Gewalt ausgesetzt waren. Mitunter erzählt sie wahre Schicksale individueller Personen und thematisiert die Apartheid sowie den Rassismus unserer Gegenwart. Walkers Reduktion auf das Wesentliche scheut nicht vor Brutalität und Obszönität zurück. Sie wird zum Sprachrohr einer kritischen Aufarbeitung amerikanischer Geschichte und liefert hochpolitische Kommentare zu unserer Gegenwart. Kara Walker zählt heute zu den profiliertesten US-amerikanischen Künstlerinnen.
Kara Walker gehört wie Felix Droese, Christian Boltaski, Andy Warhol, William Kentridge bis hin zu Henrik Schrat und Annette Schröter und zu einer Gruppe von Künstler_innen, die seit den 1970er Jahren (wieder) vermehrt mit extremen Licht und Schattenkontrasten arbeiten und dafür Scherenschnitt und Schattenriss als Ausdrucksmittel ihrer künstlerischen Praxis neu kultivierten. Die Wurzeln der auch Schatten- oder Silhouettenkunst genannten Technik reichen in die Antike zurück und bis nach Asien. Im 18. Jahrhundert erlangte sie bei den wohlhabenden Bevölkerungsschichten in Europa und Nordamerika große Beliebtheit und diente der Salongesellschaft zur Unterhaltung. Im 19. Jahrhundert wurde der Scherenschnitt kunst- und phantasievoller und diente dazu, manch biedermeierliches Idyll darzustellen, darunter Themen des privaten Rückzugs, romantische Naturdarstellungen, Blumenstilleben, Ornamentales, oder tanzende Kinderreigen und fanden bei einem breiten Publikum großen Anklang.
Kara Walker verwendet den Scherenschnitt, ein historisches Medium der weißen, adeligen wie bürgerlichen Gesellschaft, um Bildgeschichten zu erzählen, die nur auf den ersten Blick an die fragilen, märchenhaften Scherenschnitte des Biedermeier wie z.B. jene von Hans Christian Andersen, einem der bekanntesten Märchendichter, erinnern. Schonungslos – ohne Rücksicht auf politische Korrektheit – unterzieht die Künstlerin das Medium einer diametralen Umwertung seiner Codes und benutzt es zur Desillusionierung und Demontage jeglicher Beschönigung und heilen Welt. Raffiniert setzt sie den Zauber des Mediums ein, um kindliche Neugier in uns zu wecken, Geschichten zu erfahren. Als Tochter eines Künstlers und Professors für Kunst, zeichnerisch sehr talentiert, erwog Kara Walker als kleines Mädchen Cartoonistin zu werden. Der Schritt von dieser Technik, die mittels formaler Reduktion pointierte, grafische Statements ermöglicht, zum Scherenschnitt liegt nahe, wobei Übergänge zur Karikatur fließend sind. Im Gegensatz zum Cartoon liegt den Bildgeschichten, die Walker erzählt, kein Bildwitz zu Grunde und sie benötigt keine Worte. Die Geschichten, die sie uns erzählt, sind existentiell, historisch authentisch und lösen aufgrund bedrückender Einzelschicksale Scham und Betroffenheit aus. Auf den zweiten Blick rechnet die Künstlerin mit den dunklen Abgründen des Sklavenzeitalters ab, das mit der Niederlage der Südstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg (1861-65) zu Ende ging. Die menschlichen und sozialen Ungerechtigkeiten gegenüber der schwarzen Bevölkerung, fanden jedoch kein Ende, sondern reichen bis in unsere Gegenwart. Walker thematisiert rassistische Stereotypen, legt die Stigmata einer Reduktion von Personen auf Kategorien offen, stellt historische und aktuelle Fragen zur Identität der schwarzen Bevölkerung und tut dies vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen als Künstlerin hinsichtlich der Diskussionen zur Unterscheidung von „black art“ und „art“. Unermüdlich führt Walker die dunkelsten Kapitel der US-amerikanischen Kultur vor Augen, rüttelt an Geschichtsbildern und hält die Vergangenheit ohne Mitschwingen von Versöhnung, wach.
Der Schattenriss ist im buchstäblichen Sinn ein „dunkles“ Medium, das durch den einschneidenden Gebrauch von Scheren, Klingen oder Lasercuts entsteht. Durch den Verlust von Perspektive, Binnengestaltung und Details erfolgt eine Reduktion auf starke Helldunkel-Kontraste und harte Silhouetten. Schwarz erzeugt den Eindruck des abgründig Bedrohlichen, Schwarz verwandelt alle handelnden Personen, ungeachtet ihrer Hautfarbe in Schatten, die aus dem Dunkel der Geschichte aufsteigen und quasi als Gegenbild Verborgenes ans Licht bringen.
In Ihrer Studienzeit stieß Walker unter anderem auf Adrian Piper und fertigte ein kleines Performance-Stück auf Papier. Durch die Auseinandersetzung mit der Konzeptkünstlerin erkannte sie – nach eigener Aussage –, dass das Publikum, die Betrachter_innen, eigene Geschichten und Standpunkte haben, die bei der Erschaffung von Kunstwerken nicht einbezogen werden können, sich aber direkt auf die Rezeption auswirken. Diese Erkenntnis lässt zu dem wichtigen Schluss führen, dass die Kunst von Kara Walker an menschliche Erfahrungen knüpft, die über den Kontext der ethnischen Zugehörigkeit hinausgehen. Sie appelliert an eine individuelle Selbstfindung gegenüber Geschichtsbildern und Mythen kollektiver Zugehörigkeit und hinterfragt Einstellungen und Vorurteile, die Menschen unabhängig von ihrer Hautfarbe auf der ganzen Welt gemeinsam sind, weil sie sich selbst die Frage stellt: „Wer bin ich außerhalb dieser Haut, in der ich stecke“? (Originalzitat: „Who am I beyond this skin I'm in?“) (Doris Leutgeb)