Anna Jermolaewa
Anna Jermolaeva wurde 1970 in Sankt Petersburg (damals Leningrad), Russland (damals UdSSR), geboren. Im Jahr 1987 gründete sie zusammen mit dem ukrainischen Dichter Wladimir Jaremenko und Artem Gadasik die erste politische Oppositionspartei in der Sowjetunion, die „Demokratische Union“. Ziel der Partei war es, „den totalitären Staat zu liquidieren“. Jermolaeva wurde Mitherausgeberin der illustrierten Wochenzeitschrift „Demokratische Opposition“. Im Jahr 1989 wurden alle drei der antisowjetischen Agitation und der Verbreitung von Propaganda beschuldigt und es wurde ein Strafverfahren gegen sie eingeleitet („Fall Nr. 64“). Der KGB führte Verhöre durch, durchsuchte Wohnungen und beschlagnahmte Manuskripte. Anna Jermolaeva und Vladimir Jaremenko gelang eine abenteuerliche Flucht über Krakau nach Wien, wo sie nach mehreren Monaten im Flüchtlingslager Traiskirchen als politisch Verfolgte Asyl erhielten. In Wien studierte Jermolaewa bis 2002 bei Peter Kogler an der Akademie der bildenden Künste und schloss 1998 ihr Studium der Kunstgeschichte an der Universität Wien ab. Von 2006 bis 2011 war sie Professorin für Medienkunst am Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe. Von 2016 bis 2017 lehrte sie als Gastprofessorin für Kunst in zeitgenössischen Kontexten an der Kunsthochschule Kassel in Deutschland. Seit 2018 ist sie Professorin für Experimentelle Gestaltung an der Universität für Kunst- und Industriedesign in Linz.
Die Künstlerin nahm an internationalen Großveranstaltungen und Gruppenausstellungen teil, darunter sind die 60. Biennale von Venedig (2024) für die sie als Vertreterin von Österreich den Österreichischen Pavillon gestaltete; die 6. Moskauer Biennale für zeitgenössische Kunst, Moskau, Russland (2015); die Kyiv Biennale, Kiew, Ukraine (2015); die Gwangju Biennale, Gwangju Museum of Art, Korea (2014); die 2nd Ural Industrial Biennial of Contemporary Art, Jekaterinburg, Russland (2012); die 7th Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst, Berlin, Deutschland (2012); die Triennale Linz, Linz, Österreich (2010); die 3. Biennale Prag, Prag, Tschechoslowakei (1999); und die 48. Biennale von Venedig, Venedig, Italien (1999).
Einzelausstellungen widmeten der Künstlerin das Kunsthaus Bregenz (2023); Schlossmuseum Linz, Museum für angewandte Kunst (MAK) in Wien (2022); Magazin4, Bregenz (2020); Kunstraum Weikendorf (2018); Museum of the History of Photography, St. Petersburg (2017); 21er Haus, Wien (2016); Galeria Zachęta, Warschau (2015); Victoria Art Gallery, Samara (2013); Camera Austria, Graz (2012); Kunsthalle Krems (2012); Institute of Contemporary Art, Sofia (2011); Kunstverein Friedrichshafen (2009); und Museum Moderner Kunst, Passau (2004).
Die Künstlerin wurde vielfach ausgezeichnet, 1999 für ihre Teilnahme am Römerquelle-Kunstwettbewerb; 2000 erhielt sie einen Anerkennungspreis für den Professor-Hilde-Goldschmidt-Preis; 2002 wurde ihr der Pfann-Ohmann-Preis der TU Wien verliehen; 2004 bekam sie den Förderungspreis der Stadt Wien zuerkannt, 2006 folgte der T-Mobile Art Award, 2009 der Preis der Stadt Wien für Bildende Kunst, 2011 der Outstanding Artist Award (Interkultureller Dialog), 2020 der Österreichische Kunstpreis für Bildende Kunst; 2021 wurde ihr der Otto-Breicha-Preis verliehen und 2022 wurde sie mit dem Dr.-Karl-Renner-Preis geehrt.
Die Künstlerin ist vielseitig und arbeitet konzeptuell und interdisziplinär in den Bereichen Malerei, Skulptur, Fotografie, Video, Installation und Performance. Anna Jermolaewa lebt und arbeitet in Wien.
Anna Jermolaewas Kindheit und Jugend in der Sowjetunion, politische Unterdrückung und persönliche Verfolgung sowie ihre eigenen Migrationserfahrungen haben ihr künstlerisches Werk maßgeblich geprägt. Wiederkehrende Themen, mit denen sie sich kritisch auseinandersetzt, sind diktatorische Regime, subversive Strategien zur Unterwanderung politischer Propaganda, allgemeine gesellschaftliche und politische Strukturen, Mittel der Rebellion gegen Konformität, Fragen der Identität sowie die Auseinandersetzung mit Migrantenschicksalen.
Bereits 1999 präsentierte Harald Szeemann auf der 48. Biennale di Venezia im Arsenale „Chicken Triptych”, eine frühe Videoarbeit der Künstlerin. Nüchtern und unspektakulär zeigte Jermolaewa auf drei Videomonitoren dicht aneinander gepresste gerupfte Hühner, die sich in verschiedenen Stadien des Garens auf Spießen in Großgrillöfen drehten. Die Präsentation ist wie ein Mahnmal für die Massentierhaltung, die unseren hemmungslosen Fleischkonsum überhaupt erst ermöglicht. Das zusammengepferchte Geflügel wird zur Metapher für die Idee des Ausgeliefertseins; die Tiere mutieren zu anonymen Opfern der Massenvernichtung.
Im Jahr 2024 vertrat Anna Jermolaewa Österreich auf der 60. Biennale di Venezia und gestaltete den österreichischen Pavillon im Hinblick auf den seit Februar 2022 andauernden Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Im Rahmen einer Installation tanzte täglich eine Ballerina zur Musik von „Schwanensee” von Pjotr Iljitsch Tschaikowski. In Zeiten des politischen Umbruchs, zum Beispiel nach dem Tod eines Staatschefs, strahlte das sowjetische Fernsehen manchmal tagelang „Schwanensee“ anstelle des regulären Programms aus. Jermolaewa spielte in Venedig auf Tschaikowskis berühmtes Ballett als Synonym für einen Machtwechsel an. Sie verwandelte dieses Mittel der Zensur in eine Darstellung des politischen Protests und Widerstands und brachte damit ihre Hoffnung auf einen Regimewechsel an der Spitze Russlands zum Ausdruck.
Die Installation „Ribs” aus derselben Biennale-Präsentation wurde Teil der Sammlung der Generali Foundation. Der Titel bezieht sich auf die Rippen, die paarigen und gebogenen Knochen, welche den Brustkorb umgeben und die inneren Organe, darunter zentral das Herz, schützen sowie dem Oberkörper Stabilität verleihen. Mit „Ribs” offenbart Jermolaewa eine subversive Strategie des Widerstands in einem diktatorischen Regime. In den 1950er- und 1960er-Jahren war westliche Musik in der UdSSR verboten. Deshalb wurden technische Möglichkeiten erfunden, um dieses Verbot zu umgehen. Die wenigen aus dem Westen eingeschmuggelten Vinylplatten wurden auf Röntgenaufnahmen aus Krankenhäusern kopiert, um auf diesem unorthodoxen Trägermaterial westliche Popmusik heimlich auf Schwarzmärkten in der UdSSR verbreiten zu können. Die auf diese Weise hergestellten Musikaufnahmen werden bei „Ribs“ einmal täglich auf einem Plattenspieler abgespielt, dessen beleuchteter Plattenteller das schwarze Röntgenmaterial lesbar macht und durch dessen Plattennadel die Musik hörbar wird. Durch die monochrome Klarheit des technischen Verfahrens machen Röntgenbilder Unsichtbares sichtbar und enthüllen die körperliche Ganzheit als Verwobenheit von Licht und Schatten. Sie zeigen nicht nur Knochen und Organe, sondern legen auch Krankheitsprozesse, Verletzungen und Heilungen offen. Sie sind Bilder der Fragilität der menschlichen Existenz und erinnern uns daran, dass hinter jeder individuellen Oberfläche eine komplexe Welt verborgen liegt. (Doris Leutgeb)