Wie ich meine Fluchtwege organisiere

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© Sammlung Generali Foundation - Dauerleihgabe am Museum der Moderne Salzburg

Stephen Willats

Wie ich meine Fluchtwege organisiere, 1979-1980

Collage, 4 Tafeln Computerausdrucke, Fotografien, Gouache, Klebebuchstaben auf Karton einzeln gerahmt in Plexiglasboxen à 82,5 x 128 cm

GF0031100.00.0-2009

Werktext

Stephen Willats Wie ich meine Fluchtwege organisiere In Westberlin ist der Prozess der völligen Einkreisung des Individuums durch eine urbane neue Welt vollendet. Es sei denn, man ist willens, dem seinen Widerstand entgegenzusetzen. Obwohl es auch in anderen Städten Schrebergärten gibt, kommt ihnen in Westberlin besondere Bedeutung zu, und ihre Präsenz auf jedem freien Fleckchen Land ist etwas, das den BesucherInnen sofort ins Auge sticht. Siebzig oder achtzig Jahre dürften im modernen Berlin eine lange Zeit sein, und obwohl einige der Gärten schon so alt sind, sind viele erst kürzlich entstanden. Die Gartenkolonien, in denen sie gelegen sind, scheinen beständig weiterzuwachsen. Abgesehen davon, dass die Gärten eine naheliegende Möglichkeit für eine Flucht in die Natur oder ins Grüne darstellen, symbolisieren sie auch einen Ausbruch aus der Westberliner Frontstellung und bieten darüber hinaus Gelegenheit, alte Werte und Lebensformen zu bewahren. Daher bilden sie eine wichtige Basis für eine Strategie des Sichwehrens gegenüber den Zwängen des modernen Berliner Lebens. Die Arbeit Wie ich meine Fluchtwege organisiere widmet sich den unterschiedlichen Funktionen, die ein bestimmter Garten als Mittel der Flucht für seine Pächterin hat. Die Pächterin ist eine ältere Dame, die ihr ganzes Leben im selben Berliner Stadtteil gewohnt hat. Diese Dame, die einwilligte, mit mir zusammenzuarbeiten, hat ihren Garten in einer Gartenkolonie am Westkreuz, nahe Halensee am Ende des Kurfürstendamms. Ihr Alltagsleben und die äußeren Umstände, in denen sie lebt, sind eine Welt fernab von den Eindrücken, welche die Auslagen der berühmten Geschäfte am Kurfürstendamm vermitteln. Wenn sie nicht gerade in ihrem Garten ist, lebt sie in einem düsteren, winzigen, noch nie veränderten Zimmer, in der vierten Etage eines Hinterhauses, das sich an die Rückseite einiger Sexshops der Kaiser-Friedrich-Straße anschließt. Tagtäglich, Sommer wie Winter, geht sie in den Garten, den sie nach einem zwanzigminütigen Marsch gegen 11 Uhr erreicht. Gegen sechs Uhr abends verlässt sie ihn wieder und kehrt in ihr Zimmer zurück. In der Arbeit werden die weithin bekannten Symbole des „neuen Berlin“ zur Vergangenheit in Bezug gesetzt und ihr gegenübergestellt – einer Vergangenheit, die in der inneren Lebenswelt des Zimmers der älteren Dame, wo die Zeit stehengeblieben zu sein scheint, festgeschrieben ist. Die allgegenwärtigen Zwänge, die diese Symbole ihrer psychischen Verfassung auferlegen, werden in der Arbeit als Quelle ihrer Motivation verstanden, täglich in den Garten zu fliehen, der ihre eigene Insel ist. Die Insel ist eine Bastion, welche die Vergangenheit bewahrt, sie schützend einschließt gegen das weitere Vordringen der fremden Wertestruktur des „neuen Berlin“. Das wird deutlich sichtbar, wenn man sich im Garten befindet. Vier Funktionen, die der Garten im Leben der Dame hat, sind in der Arbeit definiert; jede stellt einen Parameter für die innere Struktur der vier Tafeln dar, die in der hier angegebenen Reihenfolge angeordnet sind: 1. erhält ihre Verbindung zur Vergangenheit aufrecht, 2. gibt ihr einen Sinn, 3. erleichtert ihr die Einsamkeit, 4. ist ein Ausdruck alternativer Werte. Während der gesamte Garten und alles, was sich darin befindet, als Manifestation eines „Gegenbewusstseins“ zu verstehen ist, werden verschiedene eingebrachte Objekte und die natürlichen Gegebenheiten, die dem festumrissenen Platz eigen sind, ganz genau aufgezeigt, da ihnen besondere Bedeutung für die Flucht der Dame zukommt. Einerseits wurden in den Garten Objekte der Außenwelt eingebracht, um den individuellen Anforderungen gerecht zu werden, welche die Dame an ihn stellt. Andererseits kennzeichnen die natürlichen Gegebenheiten eine Wertestruktur, die über die städtische Insel, auf der sie gefangen ist, hinausweist in eine Welt, in der die Natur vorherrscht. Dieser Konflikt zwischen dem Determinismus der urbanen Umgebung und den der Natur zugeschriebenen Freiheiten – die Natur bleibt sogar in den ihr kulturell zugeordneten Rollen im Garten auf ein symbolisches Dasein beschränkt – bildet in jedem der vier Stadien der Arbeit die Grundlage für das Problem. Das Problem wird an die BetrachterInnen in Form einer Frage weitergegeben. Durch deren Beantwortung werden sie eingebunden, indem sie die „symbolische Welt“ betreten, welche der Arbeit eingeschrieben ist, und in der Auseinandersetzung mit der Frage eigene Verbindungen zwischen den verschiedenen, dort auffindbaren verstreuten Bezügen (Zitaten und fotografischen Bildern) herstellen. Aus dem Englischen von Stefan Welz Stephen Willats, Wie ich meine Fluchtwege organisiere, Die Gabe. Eine Sammlung, Fünfte Lieferung, Hg. Olaf Nicolai, Leipzig: Edition 931, 1993.

Leihgeschichte
2009 Vaduz, LIE, Kunstmuseum Liechtenstein