Programm

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© Sammlung Generali Foundation - Dauerleihgabe am Museum der Moderne Salzburg, Foto: Werner Kaligofsky

Florian Pumhösl

Programm, 2006

Filminstallation Film, 16 mm, Farbe, Lichtton, 7 min 49 sec (Loop) Kamera und Schnitt: Hannes Böck Musik, Klavier: Susanne Pumhösl, Tonaufnahme: Herrmann Platzer Beauftragt von der Bienal de São Paulo, 2006 Edition 1/3

GF0030812.00.0-2007

Werktext

Programm São Paulos frühe Avantgarde Florian Pumhösl For me film continues to remain poetry today. Hans Richter, 1971 São Paulo wurde erstmals wirtschaftlich bedeutend, als der Anbau von Kaffee, der um 1850 über das Rio-Paraíba-Tal die Stadt erreichte sich im Hochland von São Paulo unter günstigen Klima- und Bodenbedingungen und steigender Kaufkraft in Europa ab den 1880er Jahren flächenhaft in nördliche und nordwestliche Richtung ausdehnte. Mehrere hunderttausend Europäer, überwiegend Italiener, aber auch zahlreiche Deutsche, Japaner und Libanesen, die sich vorwiegend auf den Kaffeeplantagen verdingten, wanderten zwischen 1886 und 1905 ein. Das alles verhalf São Paulo zu erstem Reichtum. Aber erst die Industrialisierung am Ende des 19. Jahrhunderts führte zu dem beeindruckenden Wachstum zur größten Metropole Südamerikas. In den 1920er Jahren wurde São Paulo die führende Industrieregion des Landes. Die Bevölkerung der Stadt überschritt bereits 1934 die Millionengrenze und verdoppelte sich bis 1950. Europa bot bis zum Ersten Weltkrieg die Referenzkulturen für die brasilianischen Eliten. Intellektuelles Vorbild war Frankreich; Französisch galt als Sprache der brasilianischen Oberschichten und des Bildungsbürgertums, bis in die 1940er Jahre wurden französischsprachige Texte in Zeitschriften abgedruckt. Der Erste Weltkrieg beeinflusste Brasilien nicht nur ökonomisch, der Zusammenbruch des Vorbildes Europa wirkte sich auch psychologisch aus. Er beschleunigte die Nationsbestrebungen und die Suche nach eigenem, kreativem Potential. Zu den Pressure groups zählten die jüngere Generation positivistisch geschulter Offiziere (tenentes), die mit einer nationalen Neuorientierung und Überwindung sozialer Rückschrittlichkeit die Missstände im eigenen Land zu überwinden trachteten, sowie auch eine Gruppe der modernistischen Avantgarde um Oswald de Andrade und Mário de Andrade. Sie hatten um 1910 noch europäische Kunstströmungen wie Dadaismus, Surrealismus, Expressionismus und Futurismus verfolgt, doch entwickelten sie einen eigenen, sehr heterogenen brasilianischen Modernismus. Mário de Andrade, (1893–1945) eine zentrale Figur der brasilianischen Moderne, forderte im Namen aller Künstler das Recht auf Selbstbestimmung der ästhetischen Werte, die Aktualisierung der brasilianischen Kunst sowie die Bildung eines kreativen Nationalbewusstseins. Europa hatte als Kristallisationspunkt der Referenzkulturen somit seine Vormachtstellung eingebüßt. Der aus Odessa stammende, in Italien ausgebildete jüdische Architekt Gregori Warchavchik (1896–1971) war einer der Pioniere modernen Bauens in Brasilien. Das Haus der Warchavchiks war einserseits Treffpunkt der Avantgarde São Paulos, in dem Dichter wie Mário de Andrade und Guilherme de Almeida und bildende KünstlerInnen wie Anita Malfatti, Flavio de Carvalho und Tarsila do Amaral sich trafen. Zum anderen war Warchavchik einer der wesentlichen Innovatoren und Informierten unter den brasilianischen Architekten, in dessen Umfeld auch spätere Protagonisten der brasilianischen Hochmoderne wie Lucio Costa oder Roberto Burle-Marx früh Anregung fanden. Die 1927 errichtete Casa Modernista, eines der ersten klar modernistischen Häuser von São Paulo, befindet sich im Stadtteil Vila Mariana, einem mittelständischen Wohnbezirk. Das heute als Parque Modernista bezeichnete Areal besteht aus einem mehrere Hektar großen Garten, entworfen von Minna Klabin-Warchavchik, dem Wohnhaus der Familie sowie einigen Nebengebäuden, darunter das nachträglich errichtete Studio des Architekten, einem Haus für dessen Kinder und dem kleinen Schulgebäude. Obwohl nur etwa 20 Minuten vom eigentlichen Stadtzentrum entfernt errichtet, ist der Park in seiner Nutzung ein Hybrid zwischen einer herrschaftlichen Villa und einer urbanen Facienda, einer für die damalige Zeit in den neu entstehenden bürgerlichen Wohnvierteln von São Paulo nicht unüblichen Kombination. Der mittlerweile stark überwucherte Garten Klabins war in seiner ursprünglichen Gestaltung ein aussergewöhnlich heterogener, jedoch wegweisender Entwurf, der einerseits eine fast skulpturale, reduzierte Korrespondenz mit dem Baukörper aufweist, wovon auch heute noch riesige Kakteen zeugen, der darüber hinaus aber japonistische Einflüsse genauso integrierte wie lokale tropische Bepflanzungen. In unmittelbarer Nachbarschaft des Areals lagen das Studio des Malers Lasar Segall (1891–1957), das später zum heutigen Museum Lasar Segall umgebaut wurde, sowie auf der gegenüberliegenden Straßenseite einige ebenfalls von Gregori Warchavchik entworfene Reihenhäuser, die sich im Besitz der Familie befanden. Das zweistöckige Wohnhaus zeigt in seinem ursprünglichen Entwurf ganz deutlich die Einflüsse des französischen Art-Deco Architekten Robert Mallet-Stevens (1886–1945), der in den Jahren zuvor viele einflussreiche Bauten geschaffen hatten, etwa die Villa des Vicomte de Noailles in Hyeres (1923), die Man Ray 1929 als Drehort für seinen Film „Les Mystères du Château du Dé“ verwendet hat. Auch in der Inneneinrichtung orientierte sich Warchavchik stark an Mallet-Stevens Möbelentwürfen. Mallet-Stevens spielte auch als Filmarchitekt eine bedeutende Rolle, in seinem Atelier waren unter anderem Fernand Legér und der brasilianischstämmige Filmemacher Alberto Cavalcanti mit der Entstehung von Filmbauten beschäftigt. Das wohl bedeutendste Zeugnis hierfür ist Marcel l`Herbiers düsteres Stummfilmwerk LÍnhumaine von 1923, in dem eine moderne Villa, der Casa Modernista nicht unähnlich – im Film die Residenz der Operndiva – dem mondänen Lebensgefühl der Zeit einen entsprechenden Hintergrund liefern. Im Jahr nach der Errichtung seines eigenen Wohnhauses entwarf Warchavchik ein weiteres, kleineres Gebäude in der Rua Itapolis in einem nahe an der Avenida Paulista, São Paulos „Broadway“ gelegenem Wohnviertel. Dieses, ebenfalls als Casa Modernista bezeichnete Haus wurde – der europäischen Stimmung des Neuen Bauen folgend als industriell herzustellendes Musterhaus der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Vom 26. März bis 20. April fand dort unter dem Titel „Exposicao de uma Casa Modernista“ eine Ausstellung von Beispielen brasilianischer sowie europäischer Kunst und Design eröffnet, darunter Arbeiten von Tarsila, Victor Brecheret, aber auch Polstereinwürfe von Sonia Delaunay und Bauhaustapeten. Obwohl manche der vermeintlich industriell herzustellenden Gestaltungselemente des Bauwerks mangels Industrie wie schon zuvor in Vila Mariana mit konventionellem Handwerk hergestellt werden mussten, war das Hereinbrechen standardisierter Wohnformen in São Paulo Stadtgespräch. Unter anderem belegt eine kurze Newsreel-sequenz, hergestellt von São Paulos „Rossi-Film“ die Aufmerksamkeit der damaligen Medienlandschaft. Der Film „Programm“ entstand 2006 im Zuge eines mehrmonatigen Aufenthalts und mehrwöchigen Dreharbeiten im Parque Modernista, die durch Einladung der 27. Biennale von São Paulo ermöglicht wurde. Ausgangspunkt für den Film waren einige ikonische Werke der europäischen Avantgarde, ihre brasilianische Rezeption und unmittelbar erfolgte Vermengung. Eine erste Annahme war, der Film könnte aus zwei Ebenen bestehen, sodass sich in den Bildern unterschiedliche Ereignisse und Beobachtungen treffen. Zunächst ist „Programm“ also einfach eine filmische Studie über ein Gebäude, die Casa Modernista und den sie umgebenden Park. Für wenige Momente erhält der Film eine zweite Bildebene, die im wesentlichen auf der Rekonstruktion eines Kaders aus dem zuvor beschriebenen Newsreel-Film von 1930 basiert, es handelt sich dabei um einen kurzen Moment bei der Eröffnung der Ausstellung. Ich war von diesem Bild beeindruckt, als ich es in einem Buch über Warchavchik abgebildet sah, weil es vieles auf einen Nenner bringt, das wir während der Beschäftigung mit der Vorgeschichte des Brasilianischen Modernismus kennen gelernt hatten: Jene migrantische, vorwiegend europäischstämmige Bourgeoisie der späten zwanziger Jahre, ein in das 20. Jahrhundert aufbrechender Teil einer Gesellschaft: auf dem Bild sehen wir Vertreter der Avantgarde, darunter de Andrade und de Almeida, in der Mitte Minna Klabin, die Gastgeberin, mit einem höherrangigen Militär. „Programm“ ist ein Versuch, diesem Bild habhaft zu werden, es zu rekonstruieren, zuzuordnen und zu speichern. Quellen: Cleve Clay (Hg.), Hans Richter by Hans Richter, Events in a Life, p.45, Holt, Rinehart and Winston, Canada, 1971 Ursula Prutsch, Brasilien 1889–1985, Von der ersten Republik bis zum Ende der Militärdiktatur, LASON-Studie, Institut für Geschichte der Universität Wien Ferraz, Geraldo, Warchavchik e a Introdução Da Nova Arquitetura No Brasil: 1925 a 1940, São Paulo: Museu De Arte De São Paulo, 1965 Randal Johnson, Robert Stam (Herausgeber), Brazilian Cinema, Associated University Press, Ontario, 1982

Leihgeschichte
2009 Vaduz, LIE, Kunstmuseum Liechtenstein